Leseprobe
Das letzte Fest des alten Europa: Anna Sacher und ihr Hotel

1897
 Karl Lueger spaziert am Corso, 
aber meidet das Sacher

Eine glänzende Bühnenerscheinung; die beste, die es für das 
Rollenfach des Demagogen gibt … Da kommt dieser Mann und schlachtet – weil ihm sonst alle anderen Künste misslangen – 
vor der aufheulenden Menge einen Juden. Auf der Rednertribüne schlachtet er ihn mit Worten, sticht ihn mit Worten tot, reißt ihn 
in Fetzen, schleudert ihn dem Volk als Opfer hin. Es ist seine erste 
monarchisch-klerikale Tat: Der allgemeinen Unzufriedenheit 
den Weg in die Judengasse weisen; dort mag sie sich austoben. 
Ein Gewitter muss diese verdorbene Luft von Wien reinigen. 
Er lässt das Donnerwetter über die Juden niedergehen.
Felix Salten: Das österreichische Antlitz (1910)

 

Eine große Ansammlung gut gekleideter Menschen flanierte zur Mittagszeit durch die Wiener Innenstadt. Die Herren im Zylinder, mit goldenen Spazierstockknäufen, die in der Sonne blitzten, die Damen selbstverständlich mit ausladenden Hüten, auf denen Seidenblumenbouquets, Schleifen oder gar ausgestopfte Vögel tanzten, während ihre Hände in feinsten Handschuhen steckten und die rauschenden Kleider ihre wohlgeformten Figuren umspielten. Man flanierte von der Kärntnerstraße kommend an der Oper vorbei auf den Ring und erfreute sich – vor allem an Sommertagen – an den Schatten spendenden Kastanien und Platanen auf der Ringstraße, bis man sich, beim Schwarzenbergplatz angelangt, voneinander verabschiedete, um zum Mittagessen nach Hause oder in ein nahe gelegenes Restaurant zu eilen. Es war der sogenannte Ringstraßenkorso, eine der vielen gesellschaftlichen Verpflichtungen der Epoche, eine Art Schaulaufen der Reichen und 
Schönen. Wer auf sich hielt, stellte sich diesem Spießrutenlauf und wählte eine Begleitung, die die Gerüchtebörse der Stadt wahlweise zu besänftigen oder mit Neuigkeiten zu füttern wusste. [...]