Leseprobe
Das letzte Fest des alten Europa: Anna Sacher und ihr Hotel

1898
 Karl Wittgenstein finanziert (nicht nur) 
die Secession

Hat man geglaubt, die Rothschild, Gutmann, Wittgenstein würden plötzlich aus der Art schlagen und Menschenwohl über Capitalsprofit stellen? Wenn Herr Rothschild ein wohlthätiges Institut mit ein paar tausend Gulden unterstützt, wenn Frau Gutmann als Patronesse in den Ballsaal einzieht, in dem zu wohlthätigem Zweck getanzt wird, dann ist es an der Zeit, davon zu sprechen, dass die verbrecherische Ausbeutung von hunderttausend Menschen diesen Leuten die Mittel bietet, mit deren tausendstem Theil sie hundert Menschen zu Hilfe kommen …
Karl Kraus: Die Fackel (31. 2.1900)

Karl Wittgenstein legte den Bleistift zur Seite und lehnte sich zurück. Die silberne Uhrkette über der Weste seines Zweiteilers blinkte in der Sonne, die durch das Fenster auf seinen Schreibtisch fiel. So, fertig! Zufrieden strich er sich über den dichten Schnauzbart, die stechenden Augen funkelten unternehmungslustig. Er hatte in Windeseile einige Berechnungen angestellt, mögliche Firmenfusionen und Standortschließungen eingeschlossen, und seinen Geschäftspartnern schnell aufs Papier hingeworfene Tabellen und Grafiken erläutert. Seit einiger Zeit hatten er, Feilchenfeld und Kestranek die Aktien der Alpine Montangesellschaft aufgekauft, bis die Wittgensteingruppe die Mehrheit am größten österreichischen Eisen- und Stahlunternehmen hielt.

Nun, ich sage es noch einmal. Wir brauchen Rationalisierung! Rationalisierung! Rationalisierung! Feilchenfeld und Kestranek nickten, während Wittgenstein sich anschickte, eine neue Zigarre aus der Zigarrenkiste vor sich zu nehmen.

Ich dachte wir lunchen, warf Kestranek ein. Die Causa ist beschlossen, und drüben beim Sacher gibt’s Kruspelspitz mit Kren. Hab beim Hergehn schon für alle bestellt. [...]