Leseprobe
Das letzte Fest des alten Europa: Anna Sacher und ihr Hotel

1908
 Madame d’Ora fotografiert Anna Sacher, 
und die Hunde müssen still halten

Die »starke« Faust, die in anderen sozialen Zuständen für den 
einzelnen Mann unentbehrlich und das rechtmäßige Fundament 
seiner Herrschaft war, ist vollkommen überflüssig geworden. Aber wenn auch das moderne Leben den Wirkungskreis der primitiven Männlichkeit mit jedem Tage mehr einschränkt … die barbarische 
Bewertung besteht doch in den Sitten und Normen noch immer 
fort. Noch immer genießt das Militär den Platz als erster Stand.
Rosa Mayreder: Zur Kritik der Weiblichkeit (1905)

Sebastian, bin schon viel zu spät. Können S’ mir bitte jemanden zum Possaward runterschicken. Für den Abend haben sich zwei größere Gesellschaften angesagt.

Selbstverständlich, gnädige Frau, erwiderte der Portier und reichte der Chefin den Mantel. Der Fiaker wartet schon.

Wo sind denn die Hunde? Ich will sie mitnehmen …

Anna Sacher wurde im Atelier d’Ora zu einer Porträtfotositzung erwartet. Eigentlich hatte sie für derartige Extravaganzen überhaupt keine Zeit, aber sie kannte und mochte die junge Fotografin Dora Kallmus, von der die ganze Stadt seit Kurzem sprach, seit vielen Jahren, und so hatte sie sich wieder einmal hinreißen lassen.

Bring die Bullys der gnädigen Frau, aber presto. Sebastian Mayr hatte den Pagen nach den Hunden geschickt. Und was ist mit der Lieferung vom Kattus und vom Engelhardt?

Ist für Nachmittag versprochen, gnädige Frau.

Na hoffentlich wird’s nicht zu spät, sonst muss der Possaward halt was andres für die Gäste kochen. [...]