Leseprobe
Das letzte Fest des alten Europa: Anna Sacher und ihr Hotel

1869
 Eduard Todesco erhöht den Mietzins 
fürs Sacher

Dem Juden war der Liberalismus mehr als eine politische 
Doctrin, ein bequemes Prinzip und eine populäre Tagesmeinung – 
er war sein geistiges Asyl, sein schützender Port nach tausend-
jähriger Heimatlosigkeit, die endliche Erfüllung der vergeblichen Sehnsucht seiner Ahnen, sein Freiheitsbrief nach einer Knechtschaft namenloser Härte und Schmach, seine Schutzgöttin, seine Herzens­königin, welcher er diente mit der ganzen Glut seiner Seele.
Joseph Bloch, Das Problem des Antisemitismus (1885)

Der Lärm, den man bis auf die Kärntnerstraße hörte, übertönte das abendliche Gezwitscher der Vögel, als Eduard Todesco die Klinke hinunterdrückte und in den von Weingeruch und Rauchschwaden erfüllten Gastraum trat. Über die wenigen Tische hinweg wurde lautstark gestritten oder – wenn man so will – debattiert. Doch der Großindustrielle, in dessen Palais sich das Wein- und Delikatessengeschäft Eduard Sacher befand, konnte es sich leisten, gegen die versammelten Nörgler ins Feld zu ziehen, die mit ihrem Geschrei um die neue Hofoper wieder einmal das Gespräch am Stammtisch dominierten. Und das, obwohl nebenan im Separee des Etablissements Franz von Dingelstedt, der neue Direktor eben jener Hofoper, ein vorgezogenes Abendessen zu sich nahm, um seinen nervösen Magen zu beruhigen.

Eine versunkene Kiste!, wetterte einer der Stadtintellektuellen über den protzigen Bau.

Der nächste pflichtete ihm bei: Ein Königgrätz der Baukunst! Schwer wie ein in der Verdauung liegender Elefant, setzte ein ­dritter noch hinzu. Auch in den Gazetten hielt die Häme an, selbst am 25. Mai, dem Tag der Eröffnung.

Wozu diese Nörgelei?, fragte Todesco in die Runde. Überall Wachstum, Bauwut. Die Oper ist ein Tempel der modernen Technik und Ingenieurskunst. Sogar mit Heizung.

Mit einem kaum merklichen Kopfnicken rief er den Wirt zu sich und bestellte ein Seitl Bier. [...]